Von Zauberwörtern und vom Zauber von Wörtern
A B A K A D A B R A – Einst versuchten die Menschen mit Zauberformeln wie dieser, Unheil abzuwenden. Und tatsächlich können wir mit dem treffenden Wort unser Geschick beeinflussen.
Dass das kein Hokuspokus sein muss, möchte ich in diesem Beitrag erfahrbar machen. Hierzu werde ich aus drei Blickwinkeln beleuchten, wie Sprache auf unseren Körper und unser Wohlbefinden wirkt. Denn ich möchte zeigen: Eine lebendige und reiche Sprache ist für unsere Lebendigkeit und unseren inneren Reichtum als Menschen unverzichtbar.
1. Der Zauber der Wörter in Wissenschaft und Dichtung
Sprache gründet auf unserem (körperlichen) Erleben und beeinflusst uns wiederum körperlich
Nicht alle Sprachwissenschaftler werden dies so sehen, aber diejenigen, die sich mit dem verkörperlichten Denken („Embodied Cognition“) befassen, können es belegen:[1]
Die Sprache der Gestik ist ganz und gar körperlich. Kinder können Ablehnung signalisieren, lange bevor sie lernen, „nein“ zu sagen. Treten sie in ihre „da“-Phase ein, so zeigen sie meist gleichzeitig auf etwas.
Als der Mensch Stühle und Tische erfand, nannte er die Stäbe, auf denen diese stehen, „Stuhlbeine“ bzw. „Tischbeine“ – zumindest im Deutschen. Diese Wörter wurden also in enger Beziehung zum Körper geschöpft.
Schon etwas schwieriger ist die Beziehung zum körperlichen Erleben zu erkennen, wo wir eine konkret wahrnehmbare Eigenschaft wie „groß“ mit einem abstrakteren Konzept wie „wichtig“ gleichsetzen. Oder wenn wir Dinge, die im Raum „oben“ oder „aufsteigend“ sind, als „gut“ bewerten. Doch auch hier nutzen wir die Koordinaten unserer körperlich erlebten Welt für das Verstehen.
Und noch etwas subtiler: Selbst die Wirkung von Modalverben wie „können“ und „müssen“ empfinden wir körperlich. Während wir bei „kann“ fühlen, dass der Weg zu etwas nicht blockiert ist, lässt uns „muss“ einen Zwang spüren.
Wichtig bei allen diesen Beispielen ist, dass unser Körper sehr fein auf Analogien, Metaphern, Schemata und dergleichen reagiert. Allerdings nehmen wir dies nur wahr, wenn wir in uns lauschen.
Das Formen der Vokale mit dem Mund wirkt sich auf die Bedeutung der Wörter aus
In dem Buch „Die Kraft der Sprache“[2] beschreibt Heinz Ritter-Schaumburg dies in faszinierender Weise. Sie können dies auch selbst ausprobieren: Formen Sie ein „u“ und sprechen Sie „lutschen“ und „rutschen“. Formen Sie ein „a“ und sprechen Sie „latschen“ und „ratschen“. Und formen Sie ein „i“ und sprechen Sie „(g)litschen“ und „ritschen“. Können Sie spüren, wie sich Lautformung, Laute und Bedeutung entsprechen?
Beim „u“ formen wir den Mund fast wie zum Lutschen und das Rutschen enthält schon ein erschrockenes „Huch“ in sich. Dagegen ist das Latschen ebenso breit wie der Mund beim „a“ und das „i“ hat etwas Spitzes an sich. Und während man nach dem „Rutschen“ eher auf dem Hosenboden landen wird, geht „Glitschen“ für mich mehr zur Seite. Natürlich enthält das Buch zahllose weitere Beispiele und es ist eine sinnliche Freude, diese nachzusprechen und die Bezüge zur Dichtung nachzuempfinden.
Dichtung lässt die Sprache und die Welt singen und verändert unser Erleben
Im 19. Jahrhundert schrieb der Dichter Josef Freiherr von Eichendorff:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
„Zauberwort“ steht hier zum einen für die Macht der Dichtung, unsere Wahrnehmung der Welt zu verwandeln. In den Zauberworten offenbart sich uns die verborgene Poesie hinter den Dingen. Doch teilt Eichendorff uns diese Erkenntnis in seinem Gedicht nicht intellektuell mit. Stattdessen verwebt er aktive Verben und Laute zu einer Melodie, die uns jenseits der Wortbedeutungen berührt und genau die Poesie erzeugt, von der das Gedicht erzählt.
Zum anderen kann „Zauberwort“ für die Erkenntnis stehen, die sich einstellt, wenn wir etwas Neuem einen treffenden Namen geben. Stellen Sie sich vor, das Internet würde „Alleswisser“, „Imborgad“ oder „Wort 320576“ heißen. Eine solche Benennung würde eine andere subtile körperliche Reaktion in uns hervorrufen und vor allem eine grundlegend andere Vorstellung davon, wie wir dieses Etwas nutzen können.
Reiner Erkenntnisgewinn oder (auch) Poesie – was für eine Welt möchten wir uns erschaffen?
Jetzt bin ich völlig unbeabsichtigt beim Apfel der Erkenntnis angelangt: Ist uns (reiner) Erkenntnisgewinn wichtig oder möchten wir die verborgene Poesie der Welt (er)leben und uns, indem wir unsere Sprache pflegen, ein Stückchen Paradies erhalten?
Natürlich können und müssen wir nicht alles in Gedichten ausdrücken. Doch selbst Sachbücher können bunt, lebendig und anschaulich geschrieben sein, wie die Stilfibeln von Wolf Schneider[3] beweisen.
In seinem Buch „The Spell of the Sensuous“ äußert David Abram die Sorge, Sprache könnte irgendwann sogar ihre Funktion zur Verständigung verlieren, wenn wir ihre Wirkung auf unser sinnliches Erleben außer Acht lassen.[4]
Ist es ein Zufall, dass „Sinn“ im Deutschen eine doppelte Bedeutung hat?
2. Die Suche nach dem Zauberwort beim Focusing
Der amerikanische Philosoph Dr. Eugene T. Gendlin beobachtete, dass eine Psychotherapie bei Menschen, die in ihren Körper spürten und eine treffende Beschreibung für ihre Situation fanden, erfolgreicher war als bei Menschen, die dies nicht taten. Auf Grundlage dieser Beobachtung entwickelte er das „Focusing“.[5]
Focusing zapft die Weisheit des Körpers an – unseren „Felt Sense“
Nehmen wir einmal an, es geht uns nicht gut. Dann wäre die erste Frage, die wir uns beim Focusing stellen: „Was steht zwischen mir und dem Gefühl von Glück und Wohlbefinden? Was ist sozusagen „im Weg“?
Doch wir fragen nicht unseren Verstand, sondern unseren Körper. Dieser antwortet üblicherweise mit einem vagen Gefühl in Brust oder Bauch, in dem wir eine verborgene Bedeutung ahnen. Um dieser Bedeutung näher zu kommen, analysieren wir das Körpergefühl jedoch nicht. Stattdessen benennen wir es zunächst nur oberflächlich und geben ihm dann noch mehr Raum im Körper, um alle seine Facetten und Nuancen zu erspüren. Und dann fragen wir uns, wie wir dieses komplexe Körpergefühl mit einem oder mehreren einfachen Wörtern beschreiben können. Auch dann bleiben wir auf der körperlichen Ebene und analysieren nicht.
Treffen wir das richtige Wort, so verändert sich unser Körpergefühl – es kommt zu einem „Shift“
Solch‘ ein Shift hat das Merkmal, dass er sich stets gut anfühlt. In der Regel löst sich die Anspannung, die wir zuvor im Körper gespürt hatten, auf. Beispielsweise verschwindet der Druck in der Brust oder der Kloß im Magen. Neurophysiologische Untersuchungen zeigen, dass sich auch die Gehirnwellen ändern. Zwar ist das „Problem“, das uns zum Focusing bewegt hat, damit nicht gelöst, doch zeigt uns das veränderte Körpergefühl einen Weg auf. Meist erkennen wir, dass unter dem oberflächlichen „Problem“ etwas anderes verborgen lag. Durch eine Serie von Focusing-Sitzungen gelangen wir so immer tiefer zum Kern einer Situation und können mit der Lösung in der Tiefe ansetzen.
Unser Körper speichert alle unsere Erfahrungen und Eindrücke – daher weiß er mehr über eine gegebene Situation und kann umfassender neue Ideen entwickeln als unser linear arbeitender Verstand
So erklärt Gendlin in seinem Buch die Wirkung des Focusing. Indem wir die treffende Beschreibung finden, öffnet sich unserem Bewusstsein ein Wissen, das zuvor unbewusst und unzugänglich war.
Wie auch bei der Dichtung decken die treffenden Wörter etwas auf, was wir sonst nicht wahrnehmen.
3. Der Zauber in der Beziehung von Körperarbeit und Sprache
Die Frage, wie Körperarbeit und Sprache zusammenhängen, war der Ausgangspunkt für meinen Text. Doch dann wurden die Dinge komplizierter, je tiefer ich in das Thema eingestiegen bin. Besonders die Ausflüge in die kognitive Linguistik und Bewusstseinsforschung mit den dazugehörigen philosophischen Überlegungen waren so faszinierend, dass ich gern noch etwas länger dort geblieben wäre.
In Bezug auf den Zusammenhang zwischen Rolfing / Rolf Movement / Somatic Movement Education und Sprache fällt mir zunächst einmal ein:
- Körperarbeit befreit unsere Expressivität und lässt unsere Gestik und damit Körpersprache authentischer werden.
- Als Praktizierende lenken wir mit Sprache die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung unserer Klienten und Klientinnen.
- Wir bitten unsere Klientinnen und Klienten im Verlauf der Arbeit, Veränderungen in ihrer Wahrnehmung ihres Körpers und der Umwelt in Worte zu fassen. Menschen, die es noch nicht gewohnt sind, in ihren Körper zu spüren, sagen dann häufig: “Ich kann eine deutliche Veränderung spüren, aber ich habe keine Worte dafür.“
Damit sind wir wieder bei der Suche nach dem treffenden Wortt. Doch unterscheidet sich der „Wortfindungsprozess“ hier grundsätzlich von dem beim Focusing oder Schreiben: Es gibt weder das eine Wort, das wie ein Schlüssel ins Schloss passt und einen Shift verursacht, noch geht es darum, Wörter für neue Konzepte zu finden. Tatsächlich gilt es, eine bislang unbekannte Sinneserfahrung mit eigenen Worten zu beschreiben – und das fühlt sich ganz anders an als Focusing oder das Ringen um die richtigen Worte, Konzepte und Sätze, wie ich es beim Schreiben dieses Textes durchlebt habe.
Ich glaube, es lohnt sich, das Thema noch etwas weiter zu durchdenken und zu durchfühlen – und noch ein paar Bücher zu lesen 😊 – und diesen Beitrag dann zu erweitern.
Haben Sie selbst hierzu Erfahrungen oder Anregungen? Dann freue mich, wenn Sie diese in die Kommentarfunktion schreiben.
[1] Pelkey, Jamin: Embodiment and Language. WIREs Cogn Sci. 2023;14:e1649
[2] Ritter-Schaumburg, Heinz: Die Kraft der Sprache. Vom Wesen der Vokale und Konsonanten. F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung, 1985
[3] Drei der Stilfibeln von Wolf Schneider – „Deutsch für Profis“, „Deutsch für Kenner“ und „Deutsch für junge Profis“ – habe ich gerade für mich neu entdeckt. Erfreulich, wie anschaulich und kurzweilig ihre Lektüre ist.
[4] Abram, David: The Spell of the Sensuous. Perception and Language in a More-Than-Human World. Vintage, 1996, Seite 89 [Titel der deutschen Ausgabe: Im Bann der sinnlichen Natur – die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt]
[5] Gendlin, Eugene T.: Focusing. Bantam Books, 2007
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